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Als im Jahre 1899 der Schlußstein zu der monumentalen, ein halbes Jahrhundert hindurch mühsam und gewissenhaft aufgebauten Gesamtausgabe der Werke Johann Sebastian Bachs gelegt worden war, konnte die Bach-Forschung mit Recht von sich sagen, daß sie ein gewaltiges und bedeutsames Stück Arbeit geleistet habe. Sie hatte nicht nur eme dringende nationale Pflicht erfüllt, sondern sie trug mit ihrer Tat zugleich auch wesentlich zu jener immer größeren und intensiveren Durchdringung aller Kulturländer mit dem Wesen der Bachschen Musik bei, die in unserem Jahrhundert Schaffenden und Nachschaffenden unaufhörlich neue Impulse gab und deren Auswirkungen auf die Zukunft - man darf wohl sagen glücklicherweise - noch nicht abzusehen sind. Die Hauptmann, Rietz, Rust, Dörffel, um nur die wichtigsten zu nennen, vermittelten mit diesen Werken ein Kulturgut, das ein dauernder, wohl immer wieder auf neue Art wirksam werdender Kraftquell zu werden verspricht.
Dieser Glaube an die gegenwärtige und zukünftige Wirkung der Musik Bachs hat nun auch in den letzten 50 Jahren die Forschung zu weiterer Arbeit an diesem verpflichtenden Erbe angehalten. Eine Reihe hochbedeutsamer und interessanter Werke wurde aufgefunden - genannt sei nur das Quodlibet (BWV 524), die G-dur-Violinsonate (BWV 1021) und die Solokantate "Mein Herze schwimmt im Blut" (BWV 199) - manche Stücke der Gesamtausgabe wurden auf Grund gewissenhafter Einzeluntersuchungen als nicht Johann Sebastian Bach zugehörig festgestellt, und in zahlreichen Fällen konnten Entstehungs- und Aufführungsdaten ergänzt oder verbessert werden. Darüber hinaus ermöglichten hinzugefundene Autographe oder kostbare Abschriften aus der Zeit die Herstellung verbesserter kritischer Ausgaben, und philologisch exakte Arbeit, Sachkenntnis, starkes Einfühlungsvermögen und beherztes Kombinieren führten zu immer wieder neuen Deutungen: im kiemen etwa bei der Veröffentlichung praktischer Ausgaben einzelner Klavierwerke, im großen vor allem bei den verschiedenen Versuchen der Klangversinnlichung der "Kunst der Fuge". Schließlich wandelte sich auch, unterstützt durch neue Forschungsergebnisse, die Einstellung zu Fragen der Aufführungspraxis vom romantischen Bedürfnis nach Tonvolumen zum gegenwärtigen Verlangen nach klar durchsichtigen, die Struktur der Linien erfaßbar machenden Wiedergaben.
Sinn und Zweck des vorliegenden Verzeichnisses, das sich freudig mit in die Kette der Bemühungen urn die Erschließung der Bach schen Mu sik einreiht, ist, das Wissen dieser 50 Jahre mit den Resultaten der Gesamtausgabe zu verschmelzen und am sicheren Themenleitseil aller von Bach stammenden oder für ihn in Anspruch genommenen Werke in gedrängtester, meist nur hinweisender Form zusammenzutragen. Auf diese Weise wird ein dreifaches Ziel zu erreichen versucht: Erstens soll festgestellt werden, was nach dem neuesten Stand der Forschung überhaupt an Werken von Bach vorliegt, zweitens sollen mit der Angabe alter handschriftlicher und gedruckter Vorlagen weitere Quellenstudien an Bachs Werken ermöglicht und drittens soll das in Form von Ausgaben oder von wissenschaftlichen (dieser Begriff wird absichtlich weit gefaßt) Betrachtungen Niedergelegte nicht nur für weitere Forschungen festgehalten, sondern auch für das Verzeichnis selbst ausgewertet werden.
Einer solchen, wohl auch dem Uneingeweihten nicht gering erscheinenden Aufgabe gegenüber stand das eine absolut fest, daß sie nur wenig Möglichkeit zuließ zu cigenen Forschungen. Wenn sich trotzdem einige "Neuigkeiten" hineingeschlichen haben, wie beispielsweise die Erörterungen zu Anh. 158 oder die Zuweisung eines Manuskriptes an seine richtige Stelle (BB Mus. ms. autogr. Bach P1162) oder die Klärung von Manuskriptzusammenhängen (BWV 188, Abs. Autograph), so sind das Resultate, die dem Herausgeber bei seiner Arbeit gewissermaßen in den Schoß fielen und nicht allzuviel kostbare Zeit raubten. Wenn er sich aber in das Dickicht der Meinungen über echt oder unecht, über verschiedene Datierungen oder über Besetzungsfragen usw. begeben hätte, stünde er heute noch am Anfang seiner emühungen. Daß und wieviel Selbstverleugnung eine
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solche Arbeitsweise erfordert, kann jeder ermessen, in dem Bachs Werke leben und der selbst einmal Zugang zu den kostbaren Quellen gehabt hat. Im folgenden sei, um das Gesagte zu erhärten, kurz geschildert, welche Wege zur Erreichung des gesteckten dreifachen Zieles zu gehen waren.
Auf welche Vorarbeiten konnte sich die Zusammentragung der Werke Bachs stützen? Die erste zusammenfassende, allerdings themenlose Aufzählung findet sich in dem von Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Friedrich Agricola stammenden Nekrolog vom Jahre 1754 in Mizlers "Musicalischer Bibliothek". Ihr folgt das erheblich wichtigere "Verzeichnis des musikalischen Nachlasses des verstorbenen Capellmeisters Carl Philipp Emanuel Bach" von 1790, das emen großen eigenen Abschnitt mit "Instrumental-Sachen" und "Singstücken" Bachs, allerdings auch wieder ohne Themen, enthält note 1 und die ausführlichste mit Texten und Besetzungsangaben versehene Zusammenstellung vor Hausers thematischem Katalog darstellt. Allerdings gibt sie nur das auf Philipp Emanuel Bach gefallene Erbteil wieder. Aber da das andere, Wilhelm Friedemann gehörige, das bekanntlich ein böses, unersetzlichen Schaden stiftendes Schicksal erlitt, in keiner ähnlichen Form überliefert ist, besitzt es emen um so größeren Quellenwert; denn auf diese beiden Söhne entfiel Bachs handschriftlicher Nachlaß note 2. Die nächste eingehendere Beschäftigung mit Bachs Werken findet sich in Johann Nikolaus Forkels Biographie note 3. Das gleichfalls themenlose Verzeichnis ist wie der Nekrolog von 1754 bemüht, einen Gesamtfüberblick üiber Bachs Schaffen zu geben. Anspruch auf Vollständigkeit oder Genauigkeit wird es nie erhoben haben. Namentlich die Vokalwerke sind, nicht ohne spürbare Abhängigkeit von dem Nekrolog, sehr kurz weggekommen. Daß es aber die wichtigsten Instrumentalwerke in stattlicher Anzahl überliefert, und daß es die Fülle der Kompositionsformen Bachs erstmalig, und zwar in emer heute noch vertretbaren, zum Teil auch in der vorliegenden Arbeit wieder verwerteten Form einzuteilen und systematisch zu gruppieren wußte, bleibt sein dauerndes Verdienst.
Diese Unterlagen fanden rund 30 Jahre später ihre Zusammenfassung in dem bereits erwähnten ersten thematischen Verzeichnis der Werke Bachs durch den leidenschaftlichen Bach-Verehrer und -Sammler Franz Hauser. Dieser hatte als gesuchter Bühnenbariton Gelegenheit, bei seinen vielen Kunstreisen sowohl mit anderen Sammlern als auch mit den Hütern kostbarer Handschriften in öffentlichen Bibliotheken in Verbindung zu treten, so daß er die reichlich spärlichen Angaben von 1754, 1790 und 1802 außerordentlich erweitern konnte. Hermann Kretzschmar berichtet in seinem Schlußwort zur Bach-Gesamtausgabenote 4, daß diese ohne den Hauserschen Katalog wohl kaum begonnen worden wäre. Es bleibt zu bedauern, daß diese fleißige und grundlegende Arbeit nicht, wie geplant, im Druck erschienen ist note 5. Da sie die Besitzer der Handschriften mit angibt, könnte sie noch heute wertvolle Dienste zur Klarung von Provenienzfragen leisten, besonders bei solchen Manuskripten, die sich noch in Privathand bzw. auf dem Antiquariatsmarkt befinden, zumal da bei der nicht ganz gleichmäßigen Gestaltung des kritischen Apparates innerhalb der Gesamtausgabe nicht alle Hauserschen Notizen in diese Eingang gefunden haben. Jedenfalls aber steht fest, daß alle Hauser bekannten und alle bis 1900 aus gedrucklen Handschriftenkatalogen von Bibliotheken note 6 feststellbaren echten und unechten Werke Bachs in irgendeiner Form in die Gesamtausgabe eingegangen sind.
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Aber die Gesamtausgabe blieb um die Jahrhundertmitte nicht die einzige Bemühung großeren Ausmaßes um Johann Sebastian Bach. Die Früchte der alten Gesamtausgabenversuche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Hoffmeister & Kühnel 1801ff. (Klavierwerke), Peters 1817ff. (Klavierwerke, Kammermusik, Konzerte) und Haslinger 1832ff. (Orgelwerke) note 7 und neue, neben denen der Gesamtausgaben-Leitnng einherlaufende Forschungen führten zur Gesamtveröffentlichung der Orgelwerke durch Griepenkerl und Roitzsch (Peters) und bereits im Jahre 1867 zu Alfred Dörffels "Thematischem Verzeichnis der Instrumentalwerke Bachs". Diese besonders in ihrer ersten Ausgabe heute recht selten gewordene Veröffentlichung hat ungleich höheren Quellenwert als das erheblich später (1889) erschienene thematische Verzeichnis der Vokalwerke von Tamme, das, wesentlich auf der Gesamtausgabe fußend, nur jene Vokalwerke enthält, die bis zum 37. Band einschließlich veröffentlicht waren. Fine vollständige, den Stand der ganzen Gesamtausgabe repräsentierende Verzeichnung bot dann erst der Schlußband der Gesamtausgabe vom Jahre 1899, dem die Themen der Kantaten 1-120 in Band 272 (1878) vorausgegangen waren.
Als weitere Quellen über die Gesamtausgabe hinaus spielten einige nach 1900 erschienene Bibliothekskataloge note 8, ferner Antiquariatskataloge und vor allem die seitdem neu veröffentlichten Werke Bachs eine wichtige Rolle. Auch die Durcharbeit der drei alten Katalogwerke Johann Gottlob Immanuel Breitkopfs, das "Verzeichnis Musikalischer Bücher" 1760-1780, das "Verzeichnis Musicalischer Werke" 1761-1780 und der "Catalogo delle Sinfonie" mit sämtlichen Supplementen 1762-1787 erwies sich als nutzbringend, da sie Vermutungen über die Autorschaft Bachs bei einzelnen Stücken bestätigen (ob mit Recht, bleibe hier außer Betracht), bei zweifelhaften Werken andere, vermutlich die richtigen Komponistennamen aufführen und einige sonst nirgendwo überlieferte Werke enthalten. Und schliesßlich förderte die Arbeit an zahlreichen Bibliotheken noch manches Werk zutage, das Johann Sebastian Bachs Namen trägt und in die Abteilungen der zweifelhaften oder fälschlich Bach zugeschriebenen Kompositionen aufgenommen werden konnte.
Diese Arheit an Bibliotheken wurde allerdings vorwiegend in den Dienst des zweiten Zieles des Verzeichnisses gestellt, alte handschriftliche und gedruckte Quellen zu den einzelnen Werken in möglichst großer Zahl mitzuteilen. Das war ein ebenso umfangreiches wie kompliziertes Unternehmen, und es befällt den Herausgeber beim Gedanken an so viel vergeblich getane Arbeit immer wieder ein Schrecken. Denn - um hier auf später zu Berichtendes bereits vorzugreifen - mit der Vernichtung des druckfertigen Manuskriptes im Jahre 1943 einerseits und mit der Zerstörung und Verarmung deutschen Bibliotheksbesitzes andererseits sind die Unterlagen und die Grundlagen fü eine Verzeichnung dieser Art verlorengegangen, und es dürfte viele Jahre dauern, bis der Versuch gewagt werden kann, abermals die Quellen einigermaßen erschöpfend zu erfassen. Was jetzt noch an Randschriften und Drucken aufgeführt wird, ist ein Torso - aus alten Korrekturfahnen, der Literatur und aus brieflichen Anfragen zusammengetragen und mit voller Absicht beschränkt auf Autographe und auf Abschriften bedeutender Persöhnlichkeiten. Dahei ist außerdem die gegenwärtige Quellenlage nicht berücksichtigt, d. h. alle Autographe, Abschriften und Drucke werden den Instituten zugeordnet, bei denen sie sich bis zum Jahre 1945 befunden haben. Dem schon jetzt geplanten Supplementband zu vorliegendem Buch muß es vorbehalten bleihen, ein den völlig veränderten Verhaltnissen Rechnung tragendes Quellenverzeichnis der Werke Bachs zusammenzustellen.
Was endlich das dritte Ziel betrifft, die Resultate der Bach-Forschung, die strenggenommen schon mit dem Nekrolog bei Mizler einsetzt, bis zur Gegenwart zu bieten, so war hier eine doppelte Aufgabe zu erfüllen: bibliographische Verzeichnung und kritische Verwertung. Es konnte keines
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falls genügen, nur Titel an Titel zu reihen, sondern es mußten auch zahlreiche Ergebnisse dieser vielen tausend Einzeluntersuchungen gegeneinander ahgewogen und an verschiedenen Stellen des Verzeichnisses, so bei den Bemerkungen über Textdichter, Entstehungszeit, Aufführungsdaten, Parodien und besonders auch über die Echtheit niedergelegt werden. Aber auch hier bestand nicht die Möglichkeit, den zahllosen Problemen selbst auf den Grund zu gehen, so mußte vielmehr ohne viel Zeitverlust die am besten gegründete Ansicht herausgestellt und die anderslautenden durch einen entsprechenden Zusatz angemerkt werden. Wenn der Herausgeber z. B. zur Frage der Echtheit der Kantate "Schlage doch, gewünschte Stunde" (BWV 53) oder der Lukas-Passion (BWV 246) oder der Schemelli-Lieder (BWV 439-507) oder des Giovannini-Liedes "Willst du dein Herz mir schenken" (BWV 518) oder der F-dur-Violinsonate (BWV 1022) und der Trio-Sonate G-dur (BWV 1038) oder der beiden Konzertbearbeitungen für 3 Klaviere (BWV 1063/64) - diese Beispiele könnten noch beliebig vermehrt werden - hätte Stellung nehmen wollen (in diesem Zusammenhang sei auch an die achtstimmige Messe Anh. 167 erinnert, die lange Zeit hindurch als Bachsches Werk galt note 9, und an die Möglichkeit, daß innerhalb der Kantaten Choralsätze nicht von Bach stammen note 10), dann wäre das Verzeichnis kaum zustande gekommen. Dasselbe gilt für die Feststellung der Entstehungszeit der einzelnen Werke, wo die Jahreszahl vielfach nur eine Annäherung an das Auffahrungsdatum bedeutet, wo die Meinungen der Forscher oft erheblich voneinander abweichen note 11 und wo selbst Spezialuntersuchungen zu dem zusammenfassenden Urteil kommen müssen, daß eine chronologische Ordnung - nämlich hier der Orgelwerke - unmöglich ist, "weil nicht genugend äußere und innere Anhaltspunkte zu einer einigermaßen einwandfreien Zeitbestimmung vorhanden sind" note 12. Alle jene Forschungsergebnisse hingegen, die auf sicherem Boden stehen, so vor allem die über mehrfache Verwendung der gleichen Komposition (vgl. h-moll-Messe BWV 232), über Vor- und Urformen (vgl. Wohltemperiertes Klavier BWV 846-893), über ermittelte Komponisten bei unechten Werken (vgl. Anh. III) und über mutmaßliche bei zweifelhaften wurden für das Verzeichnis ausgewertet. Sie bilden den Rückhalt für fast alle unterrichtenden Aussagen üiber die einzelnen Werke.
Nun war mit dieser Zielsetzung zwar ein Programm gegeben, das während der Kiemarbeit des Zusammentragens dauernd wirksam war, aber das Programm war noch kein Plan für den gesamten Aufbau des Verzeichnisses. Und hier, bei dieser Lebensfrage des vorliegenden Buches, ist es notwendig, etwas zu verweilen. "Habent sua fata libelli" heißt es im allgemeinen von fertigen Büchern. Das Bach-Werke-Verzeichnis hat seine "fata" bereits während seiner Entstehungszeit gehabt. Zunächst übernahm im Jahre 1926 auf Anregung des Hauses Breitkopf & Härtel Johannes Wolgast die Arbeit, bei der ihm der Verlag mit Kartenvordrucken und Eintragen auf diesen mit an die Hand ging. Es handelte sicb anfänglich im wesentlichen um ein Excerpt der Bach-Gesamtausgabe. Richtlinien für die Numerierung, fur einzelne Rubriken und über den Gang der Arbeit wurden abgesteckt, und das Buch läge nach dem Willen seines ersten Bearbeiters einheitlich gestaltet vielleicht schon seit Jahren vor, wenn nicht der Tod ein unerbittliches Halt geboten hätte. Die zahlreichen Vorarbeiten, die der zu früh Dahingegangene in seinen letzten Lebensjahren offenbar noch für das Verzeichnis geleistet hat note 13, fanden nur in einigen wenigen Eintragungen auf den erwähnten Karten ihren Niederschlag, so daß der nachfolgende Bearbeiter fast vollständig von vorn anfangen mußte. In Paul Rubardt, der das verpflichtende Erbe dieser Arbeit antrat, gewann das Verzeichnis eine Kraft, die in jahrelanger Tätigkeit Steinchen an Steinchen fügte, die Gesamtausgabe durchpflügte, Bibliotheken zur Erfassung ihrer Bachhandschriftenbestände aufsuchte und
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Literaturangaben aus zahlreichen Quellen zusammensteilte. Es war ihm nicht vergönnt, aus seinen fleißigen Vorarbeiten em Ganzes zu gestalten. Im März 1937 betraute schließlich das Haus Breitkopf & Härtel seinen damaligen Archivar, den endgültigen Herausgeber, mit dieser Aufgabe.
Hier ist nun der Ort, kurz davon zu berichten, welcher Schicksalsweg seiner Arbeit bestimmt war. Im Frühjahr 1943 ging die letzte Korrektur an das Leipziger Verlagshaus. Das Werk war druckfertig, und es lag nur an technischen Schwierigkeiten, daß es nicht noch während dieses Jahres gedruckt werden konnte. Immerhin war aber schon ein Anfang gemacht worden: die ersten Bogen lagen bereits ausgedruckt vor. Da vernichtete der Luftangriff vom 4. Dezember 1943 auf Leipzig die fertigen Bogen, den gesamten Satz, zahlreiche Stichplatten und - das Manuskript. Da die Kopie dieser Leipziger Druckvorlage bereits einige Zeit vorher (4. Oktober 1943) in Frankfurt a. M. verbrannt war, erschien es zunächst hoffnungslos, an einen Wiederaufbau der Arbeit zu denken. Nach Kriegsende stellte sich dann heraus, daß im Leipziger Verlagshaus ein nicht unbedeutender Teil der Stichplatten erhalten geblieben war, und daß sich beim Herausgeber noch eine etwa aus dem Jahre 1938 stammende alte Korrekturfahne (Satz) vorfand. Mit diesen, freilich recht unzulänglichen Mitteln wurde im Frühjahr 1946 die Arbeit an dem Verzeichnis wieder aufgenommen. Es war ein schwerer Weg, aber er war gangbar. Daß sein Ziel, soweit bei einem solchen Buch überhaupt von einem "Ziel" gesprochen werden kann, gerade im Jahre 1950 erreicht wurde, wirft auf den langen Leidensweg dieser Veröffentlichung ein tröstendes Licht.
Die Entstehungsgeschichte des Verzeichnisses bis zu dem Zeitpunkt, an dem es vom Herausgeber übernommen wurde, ist deshalb von Wichtigkeit, weil sie erkennen läßt, daß bereits mehr als die Umrisse der Gesamtanlage festlagen, ehe er ans Werk ging. Er fand nicht nur die rohe Einteilung Vokalwerke - Instrumentalwerke, sondern auch in dieser schon eine Reihenfolge der verschiedenen Kompositionsformen vor, an die er nach Lage der Sache gebunden bleiben mußte. So war sein Bestreben darauf gerichtet, die in ihren Grundlagen erkennbare Systematik - an eine chronologische Anordnung war bei der Schwierigkeit der Datierung der Werke Bach sowieso nicht zu denken note 14 - folgerichtig durchzuführen und vor allem dabei die bunte, auf der Verschiedenartigkeit des Inhaltes der einzelnen Lieferungen der Gesamtausgabe beruhende Reihefolge der Werke innerhalb einer größeren Gruppe auszumerzen, mit anderen Worten, sich nicht nur in dieser Beziehung, sondern überhaupt von der engen Kettung an die Gesamtausgabe frei zu machen. Nur so konnte der im folgenden gegebene Aufriß der gesamten Anlage des Verzeichnisses, die mit Vorbedacht an die bekannten, althergebrachten Kantatennummern anknüpft, erreicht werden.
Verrät auch dieses System in der verschiedenen Gliederung einzelner Abschnitte (z. B. in der ungleichmäßigen Stellung der Sonaten oder der Präludien und Fugen bei den Orgel- und Kiavierwerken) immer noch die Bandfolge der Gesamtausgabe, so wiegt das wohl nicht so schwer wie etwa eine völlige Wahllosigkeit in der Aufeinanderfolge, besser eme vollständige Vermischung der einzelnen Untergruppen, die sich aus dem zähen Festhalten an der Erscheinungsfolge innerhalb der Gesamtausgabe zwangsläufig hatte ergeben müssen. Das Verzeichnis soil ja auch nicht ein System um des Systems willen bieten, sondern es soll sich mit einer aus den praktischen Bedürfnissen abgeleiteten Ordnungsform als schlagkräftig erweisen. Logischerweise hätte z. B. das "Musikalische Opfer" in die Klavier- und die Kammermusikwerke eingegliedert werden müssen, oder die "Kunst der Fuge" in die Klavierwerke. Beides unterblieb nicht nur wegen der viel umkämpften Fragen der Aufführungspraxis, sondern vor allem, weil diese Werke Begriffe bilden, die über die genannten hinausragen oder mindestens gleichberechtigt neben ihnen stehen. Auch die Aufeinanderfolge Kanons - Musikalisches Opfer - Kunst der Fuge und ihre Stellung am Schluß des Verzeichnisses hat einen solchen "inneren" Grund: Sie stellen jene höchsten künstlerischen Formen dar, mit denen sich Bach in den letzten Jabren seines Lebens beschäftigte.
Aber nicht nur in der gesamten, mit auf Forkel (s. o. S. VIII) und den Hauserschen Katalog zurückgehenden Anlage, sondern auch bei der Verfolgung bestimmter einzelner Ordnungsgrundsätze wurde mit voller Absicht nicht dogmatisch verfahren. So gilt z. B. die Regel, daß verschiedene Versionen der gleichen musikalischen Substanz (vor allem Parodien) auf die gleiche Nummer mit Exponenten gestellt werden note 15. In allen jenen Fällen, in denen die zweite Verarbeitung so von der ersten abweicht, daß sie zu einer neuen Gestalt des Werkes führt (Konzertbearbeitungen!), wurde eine neue Nummer und ein neuer Platz gewählt. Vor allem aber wurde immer, auch unter der Gefahr einer klienen Verschiebung des Systems note 16, versucht, von wenigen Ausnahmen abgesehen note 17, zusammengehörige Werke, d. h. nach dem in den Originalhandschriften bekundeten Willen
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Bachs oder bedeutender Abschreiber zu einem Ganzen zusammengefaßte Gruppen gleichartiger Kompositionen gemäß ihrer Überlieferungsform unter einer gemeinsamen Überschrift zu vereinen. Diese Zusammenfassungen schließen sich also nicht an praktische Ausgaben an, die sie z.B. bei den BWV-Nummern 924-943 ausdrücklich verbessern; sie sollen vielmehr das organische Wachstum einzelner Werkgruppen widerspiegeln. Nur ein geringer Teil von ihnen ist aus rein praktischen, die Nachschlagetätigkeit berücksichtigenden Erwägungen entstanden. Wem dadurch die Systematik innerhalb der Instrumentalwerke nicht systematisch genug sein sollte, dem kommt das Themenregister (S. 933ff.) entgegen, das ohne jede Bindung an Vorarbeiten und unter Einschluß der in den Anhängen stehenden Werke aufgestellt werden konnte, und bei dem sich die Systematik teilweise note 18 bis auf die Reihenfolge der einzelnen Themen einer Gruppe erstreckt note 19.
Auch die Zusammenstellung der Anhänge, namentlich desjenigen, der die zweifelhaften Werke enthält, konnte nicht nach starren Gesetzen erfolgen. Der Herausgeber ist sich sehr wohl im klaren darüber, daß manches Werk aus dem Hauptteil vielleicht im Anhang besser plaziert wäre, so etwa einige von den schwach beglaubigten Kantaten BWV 217-222, die Lukas-Passion, verschiedene Schemelli-Lieder und einige Orgel-, Klavier- und Kammermusikwerke. Auf Grund der allmählich gewonnenen Überzeugung, daß die Grenze zwischen den zweifelhaften Werken des Anhanges und des Hauptteiles bei dem gegenwärtigen Stand der Bach-Forschung noch fließend bleiben muß, und da das Verzeichnis, wie erwähnt, nicht ein Schauplatz neuer Forschungen werden sollte und konnte, mußte er zu dem etwas äußerlichen und rigorosen Entschluß kommen, mit geringen eindeutigen Ausnahmen nur solche Werke in den Anhang II aufzunehmen, die weder in einer Ausgabe noch sonst in der Literatur je als ein Werk Bachs herausgestellt worden sind. Vielleicht ist das Verbleiben zweifelhafter Kompositionen im Hauptteil, die dort als solche selbstverständlich gekennzeichnet sind, auch ein geringerer Schönheitsfehler als der für den gewissenhaften Chronisten leider unvermeidliche, daß auch solche Werke, die allgemein als echt gelten und die auch der Herausgeber für echt hält, die Note "Echtheit angezweifelt" erhalten, wenn sich nur ein einziger "Schrey" gegen sie erhebt. Die Akten über das Problem der Echtheit werden wohl noch ebenso-lange nicht geschlossen werden wie die über das Problem der Datierung.
Ein Problem konnte der Herausgeber allerdings nicht wie die genannten gewissermaßen zur Diskussion stellen, sondern mußte es nach bestem Wissen und Gewissen selbst lösen: wie weit er mit der Aufnahme zweifelhafter Kompositionen in das Verzeichnis überhaupt gehen sollte. Maßgebend für die Ausschließung waren in den Vorlagen fehlende oder später hinzugefügte Hinweise auf Bach als Komponisten, geringe Wahrscheinlichkeit der Echtheit nach dem Befund der Musik selbst, zu geringe Bruchstücke, um ein Bild vom Ganzen erhalten zu können, zu unsichere bibliographische Quellen und andere ähnliche Gründe. Um dieses Vorgehen mit Beispielen zu belegen, besonders aber auch um einigen nicht aufgenommenen Werken auf diese Weise noch einen bescheidenen Platz in dem Verzeichnis zu sichern, seien im folgenden diejenigen ausgeschiedenen Werke aufgeführt, die noch am meisten Anwartschaft auf Berücksichtigung gehabt hätten.
So wäre denn der Raum, auf dem sich das Verzeichnis mit allen seinen Zielen und Wünschen und Erfüllungsversuchen befindet, abgesteckt, und doch bleibt noch etwas zu sagen übrig, was dem Herausgeber ganz besonders am Herzen liegt: der Dank für die zahllosen, oft mühevollen und zeitraubenden schriftlichen und mündlichen Auskünfte, die er von allen Seiten erhielt. Der außerordentliche Reichtum der Musikabteilung der Öffentlichen Wissenschaftlichen Bibliothek in Berlin an Originalhandschriften Johann Sebastian Bachs und an wertvollen Abschriften seiner Werke bedingte eine Jahre hindurch währende Zusammenarbeit mit dieser kostbaren Sammlung. In dieser ganzen Zeit kamen ihm die Leiter der Musikabteilung, Herr Professor Dr. Georg Schünemann und Herr Dr. Peter Wackernagel in zuvorkommendster Weise entgegen, indem sie nicht nur an Ort und Stelle die Einsichtnahme in alle Bach-Autographe und Abschriften gestatteten, sondern auch durch Übersendung zahlreicher Handschriften nach Leipzig die Arbeit weitgehend förderten. Die Hauptlast dieser dauernden Beanspruchungen lag dabei auf den Schultern des Herrn Bibliotheksrates Dr. Peter Wackernagel, dem an dieser Stelle für seine großen Bemühungen, für seine stete Hilfsbereitschaft und auch für die zahlreichen wertvollen schriftlichen Auskunftserteilungen ganz besonders herzlich gedankt sei. - Nächst Berlin war es Leipzig, das mit seinen verschiedenen Musiksammlungen einen bedeutenden Beitrag zum Verzeichnis der handschriftlichen Quellen lieferte. Die Erfassung der Schätze der Stadtbibliothek, besonders der in ihr ruhenden "Sammlung Gorke", wurde freundlicherweise von der Bibliotheksleitung genehmigt. Die kostbaren Kantaten-Stimmensätze der Thomasschule genau durchzuarbeiten erlaubte in zuvorkommender und dankenswerter Weise die Leitung dieser traditionsreichen Stätte. Der Herausgeber wird der Wochen stets dankbar gedenken, in denen es ihm vergönnt war, mit der Arbeit an den kostbaren Manuskripten zugleich den in jahrhundertealter Arbeit gehärteten, ehrwürdigen Geist der Schule zu erleben. - Zu danken hat er ferner dem Leiter der Musikbibliothek Peters, Herrn Professor Dr. Eugen Schmitz, für freundliche Gewährung der Einsichtnahme in die Bach-Handschriften dieser Bibliothek und - nicht zuletzt - dem Hause Breitkopf & Härtel, das ja nicht nur seine herrlichen Bach-Handschriften, sondern darüber hinaus seine ganze Kraft für die technische Herstellung und besonders auch seine große Geduld während der schrittweisen Vollendung des Buches einsetzte.
Weiter richtet sich der Dank des Herausgebers an den stets hilfsbereiten Kustos des Bachhauses in Eisenach, Herrn Studienrat Conrad Freyse an den verdienstvollen Sammler von Bach-Handschriften, Herrn Manfred Gorke, der namentlich nach der Zerstörung der Druckvorlage zur Rekonstruierung einiger Nummern des Manuskriptes hilfreich die Hand bot, an den ehemaligen Leiter der Musikabteilung der Sächsischen Landesbibliothek, Herrn Dr. Ewald Jammers, der neben den Angaben über die von ihm verwalteten Bach-Handschriften mit stetem Interesse und wertvollen Ratschlägen das Entstehen des Buches verfolgte, an Frau Dr. Hedwig Kraus, Archivdirektor der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, an die Hauptverwaltung der Landesstiftung
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Coburg sowie an die Leitungen der ehemaligen Staats- und Universitätsbibliothek in Königsberg, der Stadtbibliothek in Danzig und der ehemaligen Bibliothek für Neuere Sprachen und Musik (heute Stadt- und Universitätsbibliothek) in Frankfurt am Main, die ihre zum Teil recht kostbaren alten Handschriften bereitwillig nach Leipzig sandten. Besonderer Dank gebührt schließlich dem Verwaltungsausschuß der Stiftung Mozarteum in Frankfürt a. M., Herrn A. V. Anthes, für die liebenswürdige Erfüllung aller Wünsche des Herausgebers.
Bei der Rückschau auf den Weg der Arbeit und auf die Arbeit selbst befallen den Herausgeber Zweifel an dem Geschaffenen. Wer wünschte auch nicht, sein Kind vollkommener zu sehen, als es ist? Und wer gäbe sich überhaupt angesichts einer solchen, dauernd im Fluß befindlichen wissenschaftlichen Materie mit dem Erreichten zufrieden, zumal, wenn wie hier, noch so viele Fragen der Beantwortung und so viele Probleme der Lösung harren? Einigermaßen "fertig" wird eine solche Arbeit freilich erwiesenermaßen erst nach zwei bis drei Generationen, und der, der den Anfang macht, setzt sich naturgemäß den meisten und heftigsten Angriffen aus. Aber einmal mußte diese Pionierarbeit geleistet werden, und sie so gut und gewissenhaft zu tun, als es in seinen Kräften stand, war des Herausgebers stetes Bemühen. Er ist sich auch darüber im klaren, daß der unvermeidliche zukünftige Umwandlungsprozeß wohl bereits am ersten Tage nach dem Erscheinen des Buches einsetzen dürfte, wenn z. B. zahlreiche im Verborgenen blühende glückliche Privatbesitzer von Bach-Autographen "erfreut" feststellen, daß ihre Handschriften nicht mit aufgeführt sind, oder wenn ängstlich gehütete Gelehrten-Karteien, gereizt durch die Kühnheit der Unternehmung dieses Verzeichnisses, ihre Schleusen öffnen und zahlreiche Pseudo- und vielleicht sogar einige echte Bach-Werke ans Tageslicht fördern. Der Herausgeber hegt diesem unvermeidlichen Lauf der Dinge gegenüber nur die eine bescheidene Hoffnung, daß sie ihm oder dem Verlagshaus in irgendeiner Form zugeleitet werden mögen. Eine solche opferbereite Anteilnahme wäre ein beglückender Beweis sowohl für die innere Ehrlichkeit und den Aufbauwillen der musikwissenschaftlichen Forschung als auch für die Ehrfurcht vor dem Genius Johann Sebastian Bach.
Frankfurt a. M., im Frühjahr 1950
Dr. Wolfgang Schmieder